ÖIF-Podiumsgespräch mit Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann über europäische Identität, Integration und Erinnerungskultur
Auf Einladung des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) sprach Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann am 19. Mai 2022 im Palais Mollard (Wien) mit Ö1-Moderatorin Nadja Kayali über das kulturelle Gedächtnis und Erinnerungskultur. In ihrem 2018 erschienenen Buch „Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte“ (2018) stellt Aleida Assmann dar, wie sich die Wirtschaftsunion in eine Wertegemeinschaft verwandelt hat. Nach der Friedenssicherung und der Demokratisierung kamen nach 1989 noch die Erneuerung der Menschenrechte und eine selbstkritische Erinnerungskultur dazu. Aleida Assmann erklärte: "Nach dem zweiten Weltkrieg sei der Blick aller ausschließlich nach vorne gerichtet gewesen. Man erwartete sich nichts mehr von der Geschichte, aber alles von Zukunft, Fortschritt und Innovation. Man kam damals gar nicht auf die Idee, dass geschichtliche Ereignisse auch über Generationen weitergegeben werden und Traumata in der Gegenwart nachwirken.“
"Mit dem Ende des kalten Kriegs seien in den 1990er Jahren die Geschichte und die Vergangenheit zurückgekehrt. Die Vergangenheit kann eine gefährliche Ressource sein, wenn sie für die politische Rechtfertigung von Nationalismus, Gewalt und Kriege missbraucht wird. Nach 1990 kam es mit der Rückkehr der Holocaust-Erinnerung und der Anerkennung von Verbrechen und Kollaboration zum ersten Mal aber auch zu einer auf Reue und Verantwortung gegründeten Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. In den Bereichen Religion und Kultur hat das kulturelle Gedächtnis immer schon eine Hauptrolle gespielt. Auf ihm beruht der Kanon verbindlicher Texte und großer Werke in Musik, Kunst und Literatur. In der westlichen Kultur bildet sich in der Religion wie in den Künsten ein Begleitdiskurs um die tradierten Texte und Werke, der dieses Erbe immer wieder neu aktualisiert und damit am Leben erhält. Das ist eine „langfristige, anspruchsvolle und demokratische Arbeit, bei der ständig diskutiert wird“, denn sonst handele es sich nicht um Kultur, sondern nur um Weitergabe bzw. Brauchtum, so Assmann weiter.
Migration, Integration und Erinnerungskultur
Als grundlegende Voraussetzung für ein friedliches Miteinander sieht Assmann einen offenen und selbstkritischen Umgang mit der Vergangenheit, der auch die Anerkennung der Opfer der eigenen Politik einbezieht. Auf diese Weise könnten aus ehemaligen Feinden wieder friedliche Nachbarn und Partner einer gemeinsamen Beziehungsgeschichte werden, wie das in Europa vielfach geschehen ist. Eine inklusive Erinnerungskultur berge auch Gestaltungsmöglichkeiten für MigrantInnen und Migranten im Prozess der Integration. „Diejenigen, die dazu kommen wollen, sollten wir teilhaben lassen und ihren Geschichten zuhören. Das sei notwendig, denn migrationsbedingter Wandel habe längst angefangen und nicht mehr aufzuhalten. Deshalb sollte man die Menschen motivieren, ihre Ängste zu überwinden, aus denen heraus sie Integration und gesellschaftlichen Wandel ablehnen.“ Mit der Diversität von verschiedenen Zuwanderern und ihren Geschichten werde auch die Vielfalt des nationalen Gedächtnisses in der Gesellschaft wachsen. Beim Umgang mit unliebsamen Denkmälern aus vergangenen Zeiten – Stichwort Lueger-Denkmal in Wien - sprach sie sich für eine Re-Kontextualisierung aus. Denkmäler zu entfernen sei zwar „sehr einfach, aber nicht sehr nachhaltig“, so Assmann: „Wo nur eine Lücke bleibt, entsteht auch keine Diskussion.“
Über Aleida Assmann
Aleida Assmann ist emeritierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und Professorin der Universität Konstanz. Seit den 1990er Jahren liegt ihr Forschungsschwerpunkt auf Kulturanthropologie, insbesondere forscht sie zu den Themen kulturelles Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen und Erinnerungskultur. Die renommierte Geisteswissenschaftlerin erhielt 2018 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Zu ihren bekanntesten Werken gehören die Bücher „Erinnerungsräume“ (2018), „Die Wiedererfindung der Nation” (2020) sowie „Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur“ (2021).