06 Parallelgesellschaften
„Freiheit gibt es nicht von selbst, sie muss erlernt und verteidigt werden.“
Interview mit Necla Kelek
Necla Kelek beschreibt parallelgesellschaftliche Strukturen von Muslimen in Europa als ethnische und religiöse Gruppen, die sich selbst aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzen. Sie warnt davor, dass Personen in solchen Gemeinschaften oftmals individuelle Freiheitsrechte vorenthalten werden. Vor allem Kinder, Frauen und Bräute leben in diesen unter dem Diktat von Männern und ihren Familien.
Wie genau definieren Sie Parallelgesellschaften?
Historisch betrachtet sind die ersten Parallelgesellschaften in Europa die Judengassen, das Ghetto in Venedig, die Schtetl in Osteuropa. Jüdische Gläubige wollten nicht mehr als tausend Schritte von der nächsten Synagoge wohnen und man wies den Juden besondere Wohnviertel zu, weil man mit ihnen nicht zusammenleben wollte. Es fand eine Segregation oder auch Selbstausgrenzung aus religiösen, ethnischen oder sozialen Gründen statt. Dieser Rückzug war oft – musste aber nicht – räumlich sein. Im Ergebnis wurden Minderheiten in bestimmten Gebieten zur kulturell bestimmenden Gruppe, die meist eine monokulturelle Identität hatten, sich vom sozialen Leben der Mehrheitsgesellschaft abgrenzten, meist in eigenen Wirtschaftszusammenhängen lebten, eigene gesellschaftliche Strukturen schufen und nach eigenen Gesetzen lebten. Heute ist es besonders augenfällig bei den Chassidim, den Satmar Juden in New York Williamsburg. Die amerikanische Schriftstellerin Deborah Feldmann beschreibt in ihrem Buch „Unorthodox“ diese Welt als eine Gesellschaft, die in einer modernen Stadt nach den Geboten, sogenannten Mitzwots, des mittelalterlichen orthodoxen Judentums leben und die Gesetze der USA ignorieren.
Kommen wir zu den Muslimen in Europa ...
Wir sprechen in der Debatte um Integration von Muslimen in Europa, von parallelgesellschaftlichen Strukturen oder auch von Gegengesellschaften. In der Regel sind es ethnische und religiöse Gruppen, die sich selbst aus der Mehrheitsgesellschaft ausgrenzen. Solange es sich um kleine Gruppen, Gemeinden oder Sekten handelt, sind sie außerhalb der öffentlichen Erörterung – solange sie sich an die Gesetze halten oder nicht auffällig sind. So gibt es in Berlin beispielsweise eine große Gruppe von Vietnamesen, die völlig geschlossen unter sich leben und von deren Leben nichts bekannt ist. Bei unserem Gegenstand der Debatte um Parallelgesellschaften handelt es sich meist um muslimische oder orientalische Communities oder Clans. Diese beanspruchen, nach eigenen Vorstellungen zu leben, und verlangen in einigen Bereichen, dass ihre religiösen Regeln und Traditionen von der Mehrheit akzeptiert werden und sich danach gerichtet wird. So sollen zum Beispiel während des Ramadan die Schulkantinen geschlossen und keine Klassenarbeiten geschrieben oder in der Universität Gebetsräume für Muslime eingerichtet werden. Im Kern geht es darum, dass die individuelle Religionsfreiheit als Gruppenrecht anerkannt wird.
Welche Organisationsformen von, wie Sie sagen, parallelgesellschaftlichen Strukturen gibt es?
Unterschiedliche. Da gibt es zum Beispiel die Moscheegemeinde, die nach orthodoxen Geboten ihre Umma organisiert. Da wird von alltäglichen Dingen wie Lebensmittel- oder Hochzeitsläden bis zur Beerdigung alles organisiert. Die Gemeindemitglieder sind unter sich, haben kaum Kontakt zu ihrer deutschen oder österreichischen Umgebung. Selbst Streitigkeiten werden nach Scharia- oder Stammesrecht von „Friedensrichtern“ geregelt. Die Gemeindemitglieder kontrollieren sich gegenseitig im Sinne der Umma. Oder die arabisch-kurdischen Familienclans, die um die Vorherrschaft in Stadtteilen wie Berlin-Neukölln oder Berlin-Wedding wetteifern, das legale wie illegale Wirtschaftsleben beherrschen und gegenüber der Polizei und Justiz geschlossen auftreten. Streitigkeiten werden mit Friedens- oder Scharia-Richtern geregelt.
Werden wir etwas allgemeiner: Wo liegen die generellen Probleme bzw. Gefahren von Parallelgesellschaften?
Wer in eine solche Gemeinschaft hineingeboren oder verheiratet wird, dem werden oft die individuellen Freiheitsrechte vorenthalten. Die Älteren – Väter, Mütter, Onkel, Tanten, Brüder – bestimmen, wie das Mädchen oder der Junge zu leben hat, ob und wie lange es zur Schule geht, wann und wen es heiratet, ob sie Kopftuch tragen muss oder das Haus verlassen darf. Kinder, Frauen, Bräute leben unter dem Diktat, wie ein Besitz von Männern und ihren Familien. In solchen Strukturen gelten oft die Grundrechte für den Einzelnen nicht.
Welchen Zusammenhang kann es zwischen Parallelgesellschaften und Radikalisierung geben? Oder anders gefragt: Begünstigen Parallelgesellschaften Radikalisierungen?
Radikalisierung kann immer dann stattfinden, wenn der Kontakt zum sozialen Umfeld außerhalb der Familie oder des Clans verloren geht. Wer nur die Welt der Moschee, des Hinterzimmers und des geschlossenen Vorhangs kennt, wer keine anderen Freunde außer Verwandte und Bekannte der Familie und Moschee hat, weiß nichts von der Welt draußen und kann ein leichtes Opfer von Rattenfängern oder Heilspredigern werden.
Welche Irrtümer bzw. Missverständnisse gibt es rund um Parallelgesellschaften?
Sie werden oft verharmlost. Man findet, dass es ein Recht und persönliche Freiheit ist, im Namen der mitgebrachten Kultur und religiös legitimiert, zum Beispiel Burka zu tragen oder Babys ein Kopftuch aufzusetzen. Man findet das pittoresk und sagt, Kritik daran sei Rassismus. Aber meiner Meinung nach kann jeder nach seiner Façon selig werden, solange die Grundrechte für jedes Mädchen und jeden Jungen, für jede Frau und jeden Mann gewährleistet sind. Der Staat sollte dabei eine schützende Rolle spielen.
Wie sehr darf oder soll sich die Regierung grundsätzlich in Gesellschaften einmischen, etwa bei Pflichten für frisch Zugewanderte?
Wer in unseren Ländern lebt und nicht Deutsch spricht, kann am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen. Er kann seine Freiheits- und Bürgerrechte nicht wahrnehmen. Deshalb sollten wir darauf drängen, dass jeder die Sprache erlernt. Das kann man fördern und belohnen. Die Grünen und Linken haben in Deutschland ein Gesetz zu Fall gebracht, nachdem die Kenntnis von 300 Worten Deutsch Voraussetzung für die Familienzusammenführung war. Man argumentierte allen Ernstes, dieses Gesetz würde „Liebende trennen“. Jetzt kommen die Bräute aus der Türkei wieder nach Deutschland, ohne ein Wort zu verstehen.
Um einen Schritt weiterzugehen: Wie soll die Regierung mit bestehenden Parallelgesellschaften umgehen?
Wir müssen sehr viel mehr als bisher unsere Werte und Prinzipien des Zusammenlebens als Maßstab propagieren. Freiheit gibt es nicht von selbst, sie muss erlernt und verteidigt werden. Wir müssen die Bürgerrechte jedes Einzelnen und nicht die von Gruppen wie Islamverbänden stärken. Die meisten Migranten kommen nach Europa, weil ihre Gesellschaften gescheitert sind: politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, menschlich. Sie können das Angebot der persönlichen Freiheit und Sicherheit annehmen. Sie müssen das aber zu den Bedingungen machen, die diese Freiheiten ermöglichen. Freiheit wollen und Unfreiheit leben geht aus meiner Sicht nicht. Wir sollten auch nicht „den Islam“ oder „die Syrer“ integrieren, sondern den einzelnen Flüchtling oder den einzelnen Syrer. Wir sollten Integrationspolitik für zukünftige Bürger unserer Demokratie machen. Gelingt es nicht, unsere Art des Zusammenlebens gemeinsam zu gestalten und zu leben, anstatt sie zu verschenken, wird die europäische Gesellschaft zerfallen – allein aus demografischen Gründen. In Hamburg hat inzwischen jeder zweite Bewohner einen Migrationshintergrund. Wenn wir die Zuwanderer nicht von den Werten Europas überzeugen und für unsere Art, zu leben und zu streiten, gewinnen, werden wir verlieren.
Wie kommt es, dass amerikanische Großstädte stolz sind auf ihre Parallelgesellschaften, die sich „China Town“ oder „Little Italy“ nennen, und damit sogar werben? In Europa hingegen eine ganz andere Skepsis herrscht? Liegt es an den Communities? Liegt es am Islam?
In Europa gilt im Gegensatz zu den USA das Sozialstaatsprinzip. Der Staat schützt und sorgt für den Einzelnen. Niemand hat in den USA Anspruch auf Krankenversicherung oder Grundversorgung. Die Bürger der USA sind vor allem darin frei, sich selbst zu helfen. Der Anspruch auf Gemeinsamkeit ist minimal. Man schwört auf die Verfassung und wäscht sich nach dem Toilettengang die Hände. Mehr Regeln gelten als Bevormundung. Die USA sind bei Muslimen auch nicht sehr beliebt, Europa bietet ihnen mehr.
Necla Kelek ist Sozialwissenschaftlerin sowie Publizistin und eine der prominentesten islamischen Stimmen in Deutschland. Sie hat sich als Menschenrechtlerin und Kritikerin des autoritären Frauenbilds im traditionellen Islam einen Namen gemacht. Kelek wurde in Istanbul geboren und lebt in Berlin. Sie hat Volkswirtschaftslehre und Soziologie studiert. Ihre Bücher „Die fremde Braut“, „Die verlorenen Söhne“, „Bittersüße Heimat“ und „Himmelsreise“ haben die Debatte um Integration und den Islam in Deutschland nachhaltig geprägt. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2005, dem Hildegard-von-Bingen-Preis 2009 und zuletzt dem Freiheitspreis 2011.