10 Heimat und Identität
"Kulturelles Gedächtnis und kollektive Identitäten sind nicht statisch, sondern Produkte dynamischer Prozesse."
Interview mit Helga Maria Wolf
Helga Maria Wolf hebt hervor, dass kulturelles Gedächtnis und kollektive Identitäten nicht statisch sind, sondern Produkte dynamischer Prozesse, die konstruiert und hergestellt werden. Identitäten definieren sich über Räume, die ihrerseits Identitäten bilden.
Wie definieren Sie Heimat?
Definitionen sind nie so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Im Standardwerk „Wörterbuch der deutschen Volkskunde“ (1974) liest man zum Stichwort Heimat: „die uns durch Geburt und Jugend vertraut ist oder mit der uns späteres Schicksal, Ehe und Familie, Freundschaft, Beruf und geistiges Dasein eng verbindet“. In deutschen Liedern erscheint das Wort Heimat kaum vor dem 19. Jahrhundert. Der österreichische Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Amery stellte fest: „Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben.“ Nachdem Heimat in den 1960er-Jahren zum belasteten Unwort geworden war, setzte in den folgenden Jahrzehnten eine differenziertere Betrachtungsweise ein. Es erschienen Bücher mit Titeln wie „Heimat heute“ (München 1989), „Heimat hat Zukunft“ (Eisenstadt 1981), „Entdeckungsfahrten Richtung Heimat“ (Frankfurt 1981), „Heimat. Politik mit Sitz im Leben“ (Wien 1994), „Heimat. Auf der Suche nach der verlorenen Identität“ (Wien 1995) oder das äußerst empfehlenswerte „Heimat“-Buch der Münchner Kulturwissenschaftlerin Simone Egger. Es ist 2014 erschienen und trägt den Untertitel „Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden“. Damit bringt sie auf den Punkt, was auch in den anderen Büchern immer wieder anklingt: Sehnsucht nach Heimat, was man auch immer darunter verstehen mag.
Der Heimatbegriff ist also nichts Neues. Aber warum ist er derzeit so präsent?
Heimat ist ein höchst emotionaler und persönlicher Begriff. Jeder versteht darunter etwas anderes: Geborgenheit, sich wohlfühlen, Familie und Freunde, Traditionen, Landschaft etc. Aber auch Abgrenzung gegenüber Menschen, die eine andere Heimat haben. Die positiven Seiten haben Marketingexperten seit Jahrzehnten erkannt und für Lebensmittelketten mit Slogans wie „Ein gutes Stück Heimat“, „Da komm ich her“, „Zurück zum Ursprung“ oder „Ich bin Österreich“ erfolgreich etabliert. Philipp Blom hat auf die aktuelle Bedeutung der Angst hingewiesen: Das traditionelle Versprechen der Demokratie – wenn du dich bemühst, kann aus dir etwas werden – sei gebrochen. Wenn man in der Zukunft eine Bedrohung sehe, leide auch die Solidarität.
Heißt das, dass Heimat in Zeiten von Globalisierung und Migration an Bedeutung gewinnt?
Je größer die Ängste und je unsicherer die Lebensumwelt, desto größer wird die Sehnsucht nach etwas, worauf man sich verlassen kann – wie die Qualität österreichischer Nahrungsmittel. Andererseits wird Mobilität als gut und im Berufsleben notwendig angesehen. Globalisierung kann Vielfalt und Abwechslung bringen, aber auch das Gefühl des Ausgeliefertseins. Es ist empirisch belegt, dass die Ausweitung des Horizonts für die meisten Menschen die Bedeutung ihres engeren Lebensraums noch erhöht. Der deutsche Ethnologe Hermann Bausinger schrieb: „More global, more national, more regional, more local. Die lange Zeit propagierte Vorstellung von Heimat als angestammter, für Zuzügler unzugänglicher Besitz hat nicht nur ideologisch abgewirtschaftet, sondern wird auch der Zusammensetzung der Bevölkerung nicht (mehr) gerecht.“ Migration kann neue Impulse geben, aber auch auf Unverständnis stoßen, weil man sich tendenziell vor dem fürchtet, was man nicht kennt. 2018 schreibt der Jugendkulturforscher Bernhard Heinzlmaier in seinem Dossier „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“: „Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Heimatbegriff in den kommenden Dekaden an Bedeutung gewinnen wird.“ Je mehr Heimatlosigkeit die flüchtige, flexible, wechselhafte Marktgesellschaft produziert, desto bedeutsamer werde ein Heimatbegriff, der Schutz, Sicherheit und Geborgenheit als seine zentralen Momente aufweist. Mehr Konkurrenz und Wettbewerb bedeutet seiner Meinung nach mehr Schutz- und Heimatbedürfnis. Die Relevanz von Heimat steigt in einer Abstiegsgesellschaft, in der jeder täglich um die Erhaltung seines sozialen Status kämpfen muss, eher an, als dass sie abnimmt.
Beobachten Sie in der Gesellschaft so etwas wie eine Sorge vor Heimatverlust als Folge von Digitalisierung, Globalisierung und Migration?
Längst existiert neben der realen Welt eine virtuelle. Junge Menschen, die in sozialen Netzwerken „daheim“ sind, haben andere „Freunde“ als jene, die man physisch in der ländlichen „Dorfgemeinschaft“ oder in städtischen Milieus hatte. Der persönliche Aktionsradius hat sich erweitert, internationale Kontakte sind alltäglich geworden. Heimat kann sich auch unabhängig von geografischer Nachbarschaft konstituieren, schreibt Heinzlmaier – und verweist auf Jugendszenen wie etwa die Hiphop-, Skateboard-, Punk-, Metal-, Indie- oder die Fitness-Szene, die Heimat und Identifikationsmöglichkeiten bieten. Die Jungen werden sich kaum um Heimatverlust im herkömmlichen Sinn sorgen, anders vermutlich die ältere Generation.
Ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass eine neue Heimat eine alte ersetzen kann?
Die erste Heimat lässt sich nicht ersetzen, aber ergänzen. Seit Langem ist von „Wahlheimat“ die Rede, heute kann man von „Heimaten“ im Plural sprechen.
Gibt es eine gemeinsame kulturelle Identität?
Ich stimme Hermann Bausingers Überlegungen zu „abgestuften Identitätspotentialen“ zu: Das psychologische Konzept der Identität geht davon aus, dass sich die Person mit etwas identifiziert. Dazu gehört es, Merkmale einer bestehenden Gruppenidentität als eigene Wesensmerkmale anzunehmen und zugleich eigene persönliche Merkmale auszubilden. Wer Migrationserfahrung hat, wird sich in unterschiedlichen Umgebungen mit seiner alten Heimat oder mit seiner aktuellen Heimat stärker identifizieren, aber von anderen stärker mit der einen oder anderen Gruppe identifiziert. Das Bewusstsein der eigenen Identität stimmt nicht immer mit der Identifizierung durch die Umwelt überein.
Der Begriff der Identität wird in gesellschaftlichen Debatten über Integration, Kultur und Gemeinschaft zumeist kontrovers diskutiert. Worauf führen Sie diese Debatte zurück?
Die Gesellschaft besteht aus zahlreichen Schichten, Gruppen und Untergruppen. Allein die Jugendkulturforschung teilt die 14- bis 29-Jährigen in sechs „Milieus“. Daraus folgen zwangsläufig unterschiedliche Anschauungen.
Wie kann eine gemeinschaftliche Identität bzw. ein gemeinsames Narrativ entstehen, mit dem sich alle Mitglieder einer Gesellschaft identifizieren können?
Historisch durch Überlieferung gemeinsamer Werte, Ideale, Rituale, Religion etc., die das Funktionieren der Gesellschaft ermöglichen. Bis in die jüngere Vergangenheit blieben diese Prinzipien der Erziehung meist unhinterfragt. Für die Definition des immateriellen Kulturerbes der UNESCO ist wichtig, dass die Weitergabe von Generation zu Generation erfolgt. Die österreichische Liste umfasst mehr als 100 sogenannte lebendige Traditionen. Der Kulturanthropologe Klaus Schönberger stellt fest, dass „Cultural Heritage“ eine kontinuierliche Identitätsproduktion befördert. Kulturelles Gedächtnis und kollektive Identitäten sind demnach nicht statisch, sondern Produkte dynamischer Prozesse, die konstruiert und hergestellt werden.
Inwiefern hängen Heimat, Identität und Kultur zusammen?
Die Fragen nach Heimat und nach Identität können sich überschneiden. Psychologen sprechen von „Patchwork-Identitäten“, sie bestehen aus verschiedenen Elementen, die immer wieder neu überdacht und ausgehandelt werden müssen. Hermann Bausinger hat betont, dass Heimat im Raum lokalisierbar, Identität hingegen eine Frage der „inneren Struktur“ sei. Identitäten definieren sich über Räume, und Räume bilden ihrerseits Identitäten. Dabei seien sie aber immer beweglich und veränderbar. Seine These: Heimat ist die Formel für Orientierungssicherheit, für konstante und verlässliche Beziehungen und Erfahrungen. Heimat schafft Identität. Europäische Ethnologen sind sich einig, dass „Heimat“ nichts Statisches, „Kultur“ und „Identität“ dynamische Prozesse sind.
Welche Rolle spielt sowohl bei der persönlichen als auch gemeinschaftlichen Identität insbesondere die Kultur?
Definitionen von Kultur sind mindestens so zahlreich und so wenig zufriedenstellend wie von Heimat. Vertreter der „Post-Volkskunde“, also der Kulturanthropologie, Europäischen Ethnologie oder Empirischen Kulturwissenschaft verwenden einen weiten Kulturbegriff. Sie verstehen Kultur als Teil bzw. Ausdruck des Sozialen. Kultur hat mit Symbolen, Sprache, Vorstellungen zu tun, aber auch mit Wirtschaft, Politik und Recht. Hochkultur, Alltagskultur, Gruppenkultur, Subkultur etc. prägen die Menschen in den einzelnen Milieus, davon ist die Identität abhängig. Kultur, auch Alltagskultur, enthält viele internationale Elemente: Folklore lebt vom Austausch, kulturelle Gegebenheiten wie Essen und Trinken sind ohne Importvielfalt kaum mehr zu denken.
In Zusammenhang mit Zugehörigkeit, Identifikation und Heimat ist immer wieder auch vom Vertrauen in einer Gesellschaft die Rede. Was bedeutet Heterogenität für das Vertrauen in einer Gesellschaft und welche Möglichkeiten gibt es, dieses zu stärken?
Gute Erfahrungen mit anderen Menschen und Kulturen ermöglichen Vertrauen. Um Missverständnisse zu minimieren, sind sachliche Informationen über kulturelle und religiöse Gewohnheiten hilfreich. Enttäuschungen sind nie auszuschließen, doch ohne Offenheit und Wertschätzung wird man anderen Menschen nicht näherkommen können.
Wie kann man ein Gefühl von Zugehörigkeit fördern?
Unter anderem durch gemeinsame Veranstaltungen, kulturelle, sportliche Freizeitangebote. So gab es beispielsweise zur Zeit der Vietnamesischen Boat People in den 1970er-Jahren in vielen Pfarren Veranstaltungen wie Tanzfeste oder Kochkurse. Ansässige und Neuankömmlinge sollten einander kennenlernen und die Verschiedenartigkeit der Kulturen als Bereicherung erfahren. Dabei kam der Folklore als Ausdrucksform von Heimat eine wichtige Rolle zu. Um konkret zu werden: Der Staat ist für Arbeitsplätze verantwortlich, für Sprachkurse, Kulturangebote, die Förderung ehrenamtlicher Mitarbeiter. Der Einzelne, das gilt auch für Zuwanderer, für gegenseitiges Verständnis, wertschätzenden Umgang und Realitätssinn.
Die Verantwortung für Arbeitsplätze und Sprachkurse liegt auf der Hand. Welche konkrete Rolle weisen Sie der Politik darüber hinaus im Umgang mit der Vielfalt an Identitäten und den Konflikten, die sich daraus ergeben, zu?
Lassen Sie es mich so sagen: Schon 1994 schrieb der damalige Vizekanzler Erhard Busek in seinem Essay „heimat“, dass es beim Begriff Heimat um nichts anderes als um das demokratische Prinzip der geteilten Verantwortung für die Kultur der Gemeinschaften unseres Lebens gehe. Es gehe um eine neue Ethik der Gemeinschaftlichkeit, die sicherstellt, dass alle, die sich einer kulturellen Minderheit zugehörig fühlen, und jene, die zu uns gekommen sind, um hier zu arbeiten – dass also alle, die in unserem Land leben, hier ein Zuhause, eine Heimat, finden können. Eine Heimat, in der man ohne Angst leben kann. Konflikte werden durch Ideologien und – gezielte – Fehlinformationen verursacht. Zuwanderer sollten darüber hinaus möglichst früh erfahren, wie man in der Aufnahmegesellschaft lebt und arbeitet. Information kann falschen Erwartungen entgegenwirken. Asylanträge sollten zügig abgewickelt werden, damit die Betroffenen nicht lange im unerträglichen Zustand des Wartens bleiben müssen. Rascher Spracherwerb ist natürlich eine wichtige Voraussetzung.
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass sich Menschen mit einem Land und seiner Kultur bzw. Lebensweise nicht identifizieren, obwohl sie seit Jahrzehnten in diesem Land leben?
Wahrscheinlich, weil sie sich ihrer eigenen Kultur und Religion mehr verbunden und sich in der neuen Heimat nicht akzeptiert fühlen.
Und wie ist umgekehrt zu erklären, dass sich Menschen mit Ländern, Kulturen und Gepflogenheiten identifizieren, die tausende Kilometer entfernt sind?
Wahrscheinlich, weil sie die Vorteile des Lebens dort und die dortigen Menschen schätzen.
Helga Maria Wolf ist Ethnologin und Herausgeberin des Austria Forum. Sie war Redaktionsmitglied der „Presse“ und langjährige Spartenleiterin der Redaktion Großstadtleben und Ressort Religion im ORF – Radio Wien. 2013 erhielt Helga Maria Wolf den Kulturpreis des Landes Niederösterreich. Sie ist unter anderem Autorin von „Verschwundene Bräuche. Das Buch der untergegangenen Rituale“ und „Das neue BrauchBuch: Alte und junge Rituale für Lebensfreude und Lebenshilfe“.